Nierstein - Frühling im vielleicht schönsten Städtchen der Welt

05.04.2014 13:58

Winzig klein, grün, im Sonnenlicht strahlend, die Knospen der Rebe streben ins Licht. Millionen von ihnen, auf Hunderten von Hektar Erde. Aus jungen, mittelalten, uralten Reben recken sie ihre knubbeligen Köpfchen dem Himmel entgegen, lechzend nach der wärmenden Energie. Sie wollen wachsen, Blüten, Blätter und Pergel hervorbringen, dick und rund und saftig werden, die Mineralik des Bodens aufnehmen und zu herrlichen Trauben heranreifen. Dann hoffen sie auf eine ruhige Hand, die sie mit einem sauberen Schnitt von der Rebe befreit, sie sanft zerdrückt, gären lässt und irgendwann in eine Flasche abfüllt.

Reben am Roten Hang in Nierstein. Foto: Wolfgang Bürkle
 

Hier bin ich zuhause. Nierstein ist Heimat. Sanft wogende Hügel am Rhein. Reben rammen ihre Wurzeln in einmalig rote Erde. Ein kleines Städtchen, an drei Seiten umringt von Weinbergen, die vierte markiert Vater Rhein und offenbart den Blick auf das hessische Flachland. Ein kleiner geflügelter Bach fließt hindurch, vom rheinhessischen Hügelland herunter bis in den Rhein, an und unter Häusern vorbei.

Heimat, die Landschaft und die Menschen. Die Kinder und Teenies, die man auf dem Schulweg sieht, auf dem Sportplatz bei der Schule, am Bahnhof. Die Älteren, die arbeiten, Spazieren gehen, die mit ihren Autos durch die engen Gassen kurven. Mit den ersten warmen Tagen im Jahr bilden sich Schlangen an den Eis-Geschäften. Am Rheinufer wird gelaufen, geradelt, gegessen, getrunken - immer schön die hektische B9 im Rücken.  

Vor dem Warttum in Nierstein. Foto: Wolfgang Bürkle
 

In der Ortsmitte eine riesengroße Baustelle: Einst stand hier ein hässlicher grauer Malzfabrik-Turm - nun wird herrschaftlich an adliger Stelle gebaut. Im Paläontologischen Museum jagen uralte Haifischzähne das Skelett einer Seekuh. Wo nun Reben sprießen, wuchsen vor Millionen Jahren Korallen. Heute genieße ich die schönste (und natürlich prämierte) Weinsicht von der Rieslinghütte auf dem Brudersberg. Unter mir fließt der Rhein, in der Ferne glänzen die Bankentürme von Frankfurt, die Wipfel des Taunus und des Odenwalds. Rechts von mir der markante Zwiebelturm der Kilianskirche, dahinter die älteste namentlich bekannte Weinbergslage "Glöck". Am südlichen Ortsausgang 2000 Jahre alte römisch-keltische Geschichte im schwefligen Sironabad. Über allem thront der Wartturm, Wahrzeichen und Signal für Freund oder Feind.


Der Rote Hang in Nierstein. Foto: Wolfgang Bürkle
 

Die Winzer öffnen ihre Keller, präsentieren die jüngsten Tropfen mitunter frisch aus dem Fass. Spritzig sauer bis samtig süß glänzt es im Glas. Die Weinfeste sind in den Startlöchern - von der Präsentation am weltberühmten Roten Hang bis hin zum Höhepunkt, dem Winzerfest im August. In den Straußwirtschaften und Gaststätten - mal modern, mal rustikal, mal beides - tummeln sich jung und alt, arm und reich, Handwerker und Professoren. In historischen Höfen und Kellern wird gegessen, getrunken, gelacht, gesungen. Duftender Schwartemagen glänzt neben Blutwurst auf großen Tellern. Hauptsache gebabbelt wird uff rhoihessisch. Der kitschig-plakative Tourismus von Rüdesheim konnte unsere Rheinseite nicht erobern. Bodenständig und familiär geht es bei den Winzern zu, geprotzt wird selten. Das Wunschbild der ländlichen Idylle wird hier Realität - ganz subjektiv gesehen. Und wenn Riesling, Silvaner, Müller-Thurgau und Burgunder die Kehlen hinunterströmen, hat das Kind der Rebknospe seine Bestimmung gefunden.
 

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This article in English: www.wbuerkle.de/news/nierstein-springtime-in-the-maybe-most-beautiful-town-in-the-world/

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